10.9.14

Ein paar Anmerkungen zur aktuellen OECD Studie

Der Jahreskreis beinhaltet traditionell eine Reihe an Ritualen, deren mythologischer Hintergrund auch noch Erwachsene begeistern kann: Beispielsweise Ostern und die Auferstehung Christi. Oder die regelmäßigen Erscheinungstermine von OECD Bildungsstudien und dem Mythos der Vergleichbarkeit von Äpfeln mit Birnen. Auch diese Woche verzückte dieses säkulare Mysterium wieder die Medienlandschaft. Trotz aller Aura, ein paar Anmerkungen dazu.

Soziale Ungleichheit

Es ist eines der bittersten Erkenntnisse des österreichischen Bildungssystems, wie ungerecht unsere Schulen trotz allen gesellschaftlichen Reichtums sind. Wobei, gerade bei all diesem Reichtum gilt es zu relativieren: Wo viel ist, sind auch viele Pfründe zu verteidigen. Dazu gilt es zwei – oft vernachlässigte – Perspektiven mitzudenken.

Zuerst: Wenn das Schulsystem so stark hierarchisch und sozial selektiv ist, wie das österreichische, erwarten die ProfiteurInnen des Systems bei einer Neugestaltung selbstverständlich Einbußen ihrer privilegierten Position. Gleichzeitig sind es gerade die LehrerInnen und Eltern der Gymnasien, die den Diskurs, kraft ihrer sozialen Position, bestimmen.

Dazu kommt, dass es dem Schulsystem sehr gut gelingt den VerliererInnen des jetzigen Systems zu vermitteln, ihr schulisches Scheitern sei ihr eigenes Versagen und nicht – wie es die Bildungsforschung seit langem weiß – auf die sozial ungleichen Strukturen zurückzuführen.

Diese ungleichen Strukturen erklären jedoch noch nicht, weshalb es Mädchen trotz höherer Bildungsabschlüsse nicht gelingt, diesen Vorsprung als Frauen am Arbeitsmarkt oder in anderen Bereichen, umzusetzen. Hier müsste der Blick vom Bildungssystem, dass zu diesem Thema in den letzten Jahren einen großen Schritt weitergekommen ist, auf den Arbeitsmarkt und alltägliche Gerechtigkeitsfragen gelenkt werden. Wenn Frauen trotz gleicher Tätigkeit und Qualifikation weniger als Männer verdienen und in ihrem Karrierefortschritt eingeschränkt sind, kann man das den Schulen und Universitäten nur schwer vorwerfen.

Notwendig wäre es aber auch, intersektional zu denken und sich zu überlegen, welche Frauen, mit welchem sozialen und regionalen Hintergrund, haben, mit welchen Ungleichheiten zu kämpfen. Immer noch beschränken sich viele gutgemeinte Kommentare auf „die“ Frauen, „die“ MigrantInnen, „die“ Armen“, „die ArbeiterInnen“ usw. ohne die wechselseitigen Verschränkungen mitzudenken. Dadurch geraten diese Argumentationsmuster in die Defensive, wenn die Gegenseite Beispiele von Menschen bringt die es „geschafft“ hätten, obwohl „Frau“, „arm“, „Migrationshintergrund“.

Mit Statistiken lässt sich viel tricksen, sie können jedoch auch helfen unseren Blick von der unmittelbaren Lebenswelt – die uns in unserer Meinung immer zu bestätigen scheint – zu entfernen, um größere Zusammenhänge sehen zu können.

Das Gegenteil von Gut ist gut Gemeint

JedeR, der/die schon einmal internationale Vergleiche im Bildungsbereich versucht hat, kann von der Schwierigkeit dieses Unterfangens Zeugnis ablegen. Äpfel und Birnen sind näher verwandt, als so manches Schulsystem und unterschiedliche Unterrichtskulturen. Bestes Beispiel für dieses nahezu aussichtslose Unterfangen ist die International Standard Classification of Education der Unesco (ISCED), quasi das Vergleichskriterium der Schulsysteme.

In Österreich werden dabei AHS Oberstufe, Polytechnische Schule, Lehre und Berufsbildende Mittlere Schule in die Kategorie 3 zusammengefasst, die Berufsbildenden Höheren Schulen sind Kategorie 4, die Werkmeisterschulen gemeinsam mit Universitäten, Fachhochschulen und Akademien Kategorie 5. Jede/r der/die das österreichische Schulsystem etwas kennt, wird bemerken, dass diese Einteilung nur sehr bedingt nützlich ist, um Unterschiede herauszuarbeiten.

Ähnlich verhält es sich mit der AkademikerInnenquote. Wie Michael Hartmann vor einigen Jahren in einem Beitrag im „Leviathan“ (Hartmann, Michael: Studiengebühren und Hochschulzugang: Vorbild USA? Leviathan, 33, Heft 4/2005, 439-463) sehr anschaulich und detailliert ausgearbeitet hat, lassen sich auch in diesem Bereich Äpfel nicht mit Birnen vergleichen.
So gibt es in den USA Kurzstudien, die in der Klassifikation als akademisch gelten, hierzulande jedoch von ihrer inhaltlichen Tiefe maximal dem BHS-Abschluss entsprechen.

Aus diesen Gründen ist Österreich auf mysteriöse Weise immer „Verlierer“ bei der AkademikerInnenquote, aber Spitzenreiter bei den Abschlüssen auf Maturaniveau. Aufgrund der sehr arbeitsmarktnahen Ausbildung im Lehr- und berufsbildenden Schulsektor ist man hierzulande auch immer Voreiterland in Sachen Jugendarbeitslosigkeit. Dazu kommt, dass die Arbeitsmarkt- und Einkommenschancen mit BHS-Abschlüssen oftmals besser sind als nach so manchem Studium. Es wäre daher, rein ökonomisch betrachtet, absurd, sich auf das Abenteuer Studium einzulassen.

Das Problem im österreichischen Schulsystem ist also tatsächlich nicht die Nähe zum Arbeitsmarkt, sondern die Vermittlung allgemeinbildender Kompetenzen und von politischer Bildung - dazu aber ein anderes Mal mehr...

Dr. Schleicher: Oder wie ich lernte die Studiengebühren zu lieben 

Angesichts der wirtschaftsnahen Ausrichtung der OECD müsste das in Paris eigentlich ein Grund zur Freude sein. Doch Andreas Schleicher, Leiter des Bildungsdirektorats, sieht das anders.
Sein Argument, immer noch rein ökonomisch, sind die hohen Bildungsrenditen von AkademikerInnen. Immerhin verdient der Staat mit jedem Universitätsabsolventen 100.000 Euro an höheren Steuern und Sozialausgaben (in: Standard, 10. September 2014).

Es ist eine Binsenweisheit, dass dieser Mehrwert mit steigender AkademikerInnenquote und damit eingehender Titelinflation verringern wird. Titelinflation meint, wenn mehr Menschen höhere Abschlüsse haben, der Bedarf an höheren Qualifikationen jedoch nicht gleichwertig steigt (wie es die EU Arbeitskräfteerhebung labour force survey regelmäßig belegt), wird es am Arbeitsmarkt zu einer Verdrängung von niedriger qualifizierten bei gleichzeitigem Sinken der Gehälter von Höherqualifizierten kommen.

Es gibt eigentlich nur eine realistische Möglichkeit in diesem Fall den steuerlichen Mehrwert von öffentlichen Bildungsinvestitionen aufrechtzuerhalten, wie die OECD Education at a Glance Studie jedes Jahr deutlich zeigt:
Man erhöht den privaten Finanzierungsanteil durch Studiengebühren. Aus diesem Grund ist die öffentliche Rendite in den USA oder Großbritannien (bereits ohne Schottland) weitaus höher als in Österreich. Ganz einfach, weil die Studierenden kreditfinanziert bezahlen, wovon der Staat letztlich profitiert.
Die Einkommen und damit Steuerzahlungen etc. bleiben bei AkademikerInnen immer noch höher, gleichzeitig hat der Staat in den einzelnen Studierenden nur mehr sehr wenig investieren müssen. Das Risiko und die Kreditzinsen trägt der Studierende alleine. Eine Win-Win-Situation für kurzfristig denkende Neoliberale.

Ähnlich die Situation bei den Gesamtschulen. Aus der Sicht der Bildungsforschung sind solche Schulen schon längst überfällig. Wenn sich jedoch die OECD dafür stark macht, muss man sich überlegen, ob dahinter tatsächlich rein ethische Überlegungen stehen.
Andreas Schleicher hat sicherlich aufgrund seiner eigenen Biographie ein großes Interesse an Gesamtschulen (siehe u.a.). Nicht zu vernachlässigen ist jedoch auch der langfristige Effekt bei Einführung von Gesamtschulen und fehlenden flankierenden Maßnahmen.
So wie schon heute Gymnasialeltern für den Fortbestand des Bildungsvorsprungs ihrer Kinder kämpfen, werden finanziell und kulturell vermögende Eltern auch zukünftig weder Kosten noch Mühen scheuen, ihren Kindern einen Startvorteil zu ermöglichen. Daher differenzieren sich in Ländern mit Gesamtschulsektor auch elitäre Privatschulen heraus, die diesen Abstand nach unten versprechen. Letztlich bedeutet das aber aus borniert neoliberaler Betrachtung einen Ausbau des privaten Schulsektors, womit wir wieder bei den Kernaufgaben der OECD wären.

Was zu tun wäre

In einem Bereich gebe ich Schleicher jedoch völlig Recht:
„Auf die Lehrer kommt es an! Nicht die Klassengröße entscheidet über den Erfolg oder Nichterfolg von Schülerinnen und Schülern, sondern die Qualität des Unterrichts – und somit die Qualität der pädagogisch handelnden Personen. Die Qualifikation des Lehrers bzw. der Lehrerin ist DIE zentrale Größe im Bildungswesen.“ (in: Standard, 10. September 2014).

Wenn man sich überlegt, dass die Kernaufgabe der Schule die Entfaltung und Entwicklung von Menschen ist und dann vergleicht, wie innerhalb der Schule mit den einzelnen AkteurInnen, seien es SchülerInnen oder LehrerInnen umgegangen wird, muss man sich sehr wundern. Hier anzusetzen, traditionelle Hierarchien abzubauen, den Zugang zum Beruf zu öffnen, aber vor allem auch den LehrerInnen Selbstbewusstsein zu vermitteln, damit sie dieses später auch den Kindern weiterreichen können, wären tatsächlich sehr wichtige Hebelansätze.

Es gibt jedoch noch einen zentralen Punkt, der in der Diskussion völlig untergeht und auch im Bildungsbudget nur molekular vorkommt: Die Erwachsenenbildung.
Trotz aller Sonntagsreden zum Lebenslangen Lernen, wird dieser Sektor völlig vernachlässigt. Dabei ist es gerade dieser Ort, indem Menschen die Chance haben, soziale Ungerechtigkeiten aus der Zeit der Schule abzubauen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Was bleibt, und Ritualen immanent ist: Diesen Beitrag werde ich auch nächstes Jahr und übernächstes Jahr und darüber hinaus wieder so schreiben können. Denn Rituale basieren auf Beständigkeit und ihre Kraft liegt in der Wiederholung, wenn es nächsten September wieder heißt: die OECD veröffentlicht ihre diesjährige Bildungsstudie „Education at a Glance“ und kaum wo wird soziale Herkunft so stark vererbt, wie in Österreich.