16.12.10

Über den angeblichen Zusammenhang von Bildung und Migrationshintergrund

Häufig liest und hört man die Alltagsweisheit, es gebe einen engen Zusammenhang zwischen Migration und niedrigen Bildungsabschlüssen. Trotz der vielen Statistiken und Zahlenreihen, die zur Begründung herangezogen werden, handelt es sich dabei jedoch um eine sehr eingeschränkte Betrachtungsweise. Wie erklärt sich beispielsweise die hohe Zahl an persischstämmigen Personen in der prestigeträchtigsten Berufsgruppe Österreichs, den MedizinerInnen? Tatsache ist, einige MigrantInnengruppen sind dem österreichischen Durchschnitt in Bildungsabschlüssen hoch überlegen. Wichtig ist, wie in der gesamten Integrationsdebatte, ein differenzierter Blick. So macht es einen großen Unterschied, aus welchen Gründen Menschen nach Österreich gekommen sind. Viele politische Flüchtlinge sind hochqualifiziert, auch wenn sie ihr Potential hierzulande vielleicht in den Direktverkauf von Rosen und Zeitungen stecken müssen. Andere Personen, meist aus hochindustrialisierten Ländern, wurden gezielt aufgrund ihrer hohen Bildungsabschlüsse und Erfahrungen angeworben oder vertreten ihre Länder in internationalen Vertretungen. Wie wenig dies im öffentlichen Bewusstsein verankert ist, zeigt ein Beispiel von vor einigen Jahren: Damals maßregelte die Wiener Fremdenpolizei ausländische UNO-JournalistInnen wegen derer mangelnden, und in ihren Job auch nicht notwendigen, Deutschkenntnisse. Schließlich gibt es die Arbeitsmigration, sowohl derjenigen, die wir geworben haben, als auch derjenigen, die aufgrund ihrer wichtigen Funktion für das Wirtschafts-, Gesundheits- und Sozialsystem eigentlich angeworben werden müssten. Personen, die nach Österreich kommen, um einfache Tätigkeiten zu verrichten, sind demzufolge häufig, aber natürlich nicht immer höher qualifiziert als ihre inländischen ArbeitskollegInnen. Daraus jedoch eine mangelnde Bildungsaspiration aller MigrantInnen abzuleiten, erscheint gewagt.

Die Frage bleibt: Ist es wirklich so, dass soziale schwache oder nichtprivilegierte Familien „auf Bildung nicht so viel wert legen“ wie „rau“ am 15.10 formuliert? Dahinter steht ein Argument, das Ralph Darendorf 1964 in seinem Vortrag „Arbeiterkinder an deutschen Universitäten“ dargelegt hat. Darin spricht er von der „Bildungsfeindlichkeit der Arbeiterfamilien“ und der „Arbeiterfeindlichkeit der Bildungseinrichtungen“ und zeigt damit interessante Auswirkungen auf. Der wichtige Blick auf die Ursachen lässt sich gut mit aktuelleren Forschungen schärfen. So wissen wir aus einer Schweizer Studie von Rahel Jünger (2010), dass Kinder aus nichtprivilegierten Familien der Bildung eine außerordentlich hohe Bedeutung zumessen. Vor allem aus Angst vor einem weiteren sozialen Abstieg erscheint ihnen Schulbildung als existenzielle Frage. Dabei dominiert jedoch ein ohnmächtiger Blick auf die schulischen Prozesse und Handlungen: Scheitern wird als persönliches Versagen erlebt („zuwenig angestrengt“) und selten als institutionelles Versagen. Lerninhalte erscheinen fremd und nicht wirklichkeitsbezogen, werden aber kaum in Frage gestellt. Gelernt wird funktional, um es „später einmal besser zu haben“, aber nicht aus Spaß am Lernen. Die Kinder erzählen, dass sie unter enormen Druck stehen. Gleichzeitig erhalten sie aber nur wenig Unterstützung. Ihre Eltern scheinen überfordert. Zusätzlich bieten die Schulen, die sie besuchen, weniger Möglichkeiten für zusätzliche Lernangebote und –anreize als Schulen von sozial bessergestellten SchülerInnen.

Dazu kommt, dass unser Bildungssystem die Leistungen von nichtprivilegierten Kindern weniger hoch schätzt als die von anderen Kindern. So wissen wir aus den Daten der PIRLS-Untersuchung, dass Kinder selbst bei gleichen Leistungen nach sozialer Herkunft ungleich benotet werden. Selbst bei identen Noten gehen AkademikerInnenkinder bei einem „Sehr gut“ in Deutsch und Mathematik in der vierten Klasse Volksschule mit einer Wahrscheinlichkeit von über 80% in eine AHS, Kinder von Eltern mit maximal Pflichtschule mit rund 50%. Eine deutsche Studie zeigt einen möglichen Grund dafür: So gaben PflichtschullehrerInnen an, sie würden nichtprivilegierte Kinder trotz sehr guter Schulleistungen seltener für das Gymnasium empfehlen, weil sie befürchten, dass die Kinder dort aufgrund der sozial ungleichen Gegebenheiten eher scheitern könnten als in Haupt- oder Realschule. Wen wundert da noch eine gewisse Skepsis gegenüber den Bildungseinrichtungen? Wenn nun eine Distanz zur Schule entsteht, ist es die Mischung aus diesen eigenen Erfahrungen und den mangelnden oder schlechten Schulerfahrungen ihrer Eltern.

Spricht man über Bildung, sollte die Diskussion weggehen von den stereotypen Bildern MigrantInnen versus „Eingeborene“. Wichtig wäre, sich die sozial unterschiedlichen Bildungssituationen vom Kindergarten über Schule, Universität, Weiterbildung bis zur Seniorenbildung anzusehen. Im Idealfall sollten die gewonnen wissenschaftlichen Erkenntnisse, einige sind mittlerweile über 50 Jahre alt, eines Tages auch in das Bildungssystem einfließen.