15.2.08

Ungewollte Gerechtigkeit

Ungewollte Gerechtigkeit: Eine fulminante Streitschrift gegen das Bildungsprivileg

Über das Buch "Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist" von Bruno Preisendörfer

Auch in den jüngsten Wahlkämpfen fehlte es nicht an Warnungen vor der Einheitsschule. In Niedersachsen fanden Eltern und Lehrer zu einem Aktionsbündnis "Gegliedertes Schulsystem" zusammen. Jüngere Mitglieder des Philologenverbandes, der die Interessen der Gymnasiallehrer vertritt, sprachen von einer "Richtungswahl" und schürten die Furcht vor der "Zwangs-Einheitsschule, an denen (!liebe Philologen!) alle Schülerinnen und Schüler - anders als an den Schulen heute - unabhängig von ihrer Leistungsfähigkeit zusammen lernen sollen". Eine hessische Bürgerinitiative möchte "die Interessen der Eltern vertreten, die sich nicht dem Diktat einer ideologisch geprägten Gleichmacherei unterwerfen wollen".

Man hört es und nickt, ohne lange nachzudenken: alle Wege der Gesamtschule führen bekanntlich nach Moskau. Wer gegen die frühe Selektion der Kinder auftritt, handelt allein aus sachfremden, ideologischen Motiven, ist obendrein ein Feind der Leistung. Wer Freiheit und Gerechtigkeit schätzt, die "Wahlfreiheit der Eltern" und ein "begabungsgerecht" gegliedertes Schulsystem, muss der nicht den Befürwortern der Einheitsschule in den Arm fallen?

Glücklicherweise kommt in dieser Woche eine Streitschrift in die Buchläden, die mit der selbstgerechten Ideologie der Ideologiefreien ironisch, sachkundig und wütend zugleich abrechnet: "Das Bildungsprivileg. Warum Chancengleichheit unerwünscht ist" von Bruno Preisendörfer (Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2008. 192 Seiten, 16,95 Euro).

Die Fakten sind bekannt und werden kaum bestritten: Der Bildungsforscher Jürgen Baumert stellte im Dezember 2001 fest: "Die Chancen eines Arbeiterkindes, anstelle der Realschule ein Gymnasium zu besuchen, sind viermal geringer als die eines Kindes aus der Oberschicht." Vierfach würden, so Jochen Schweitzer, der die Kultusministerkonferenz in den PISA-Gremien vertrat, Schüler aus unteren Sozialschichten bestraft: zunächst durch ihrer Herkunft, dann durch die "ungerechte Selektion am Ende der Grundschule", dann durch die schlechten Bedingungen an den Hauptschulen und dann - lebenlänglich, kann man hinzufügen - "durch die geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt".

Die armen, armen Praktikanten

Die Öffentlichkeit leidet in Bildungsangelegenheiten unter beträchtlichen Wahrnehmungsverzerrungen. Was haben wir nicht das düstere Schicksal der plötzlich benachteiligten Akademiker beklagt, als die "Generation Praktikum" auftrat. Doch absolvieren, einer Studie des Hochschul-Informations-Systems zufolge, lediglich acht Prozent der Fachhochschul- und sieben Prozent der Uni-Absolventen nach dem Studium ein Praktikum. Und selbst diese fanden rasch eine Arbeit: Neun Monate nach dem Ende des ersten Praktikums waren noch vier Prozent der Praktikanten mit Universitätsabschluss ohne Stelle. "Das ist bedauerlich", kommentiert Preisendörfer, "aber eine Katastrophe, die eine ganze akademische Generation ins Abseits stellt, kann man das nicht nennen."

Dass die Sorgen dieser kleinen, trotz allem privilegierten Gruppe so viel Mitgefühl weckten, hat mehr als zufällige Gründe. Sie sind Fleisch vom Fleische derer, die im Land den Ton angeben, der Journalisten, Politiker, Podiumsdiskussionsteilnehmer. Die "Bildungsfernen" dagegen sind eine recht stille Gruppe. Wenn über sie gesprochen wird, dann meist in Form von Zerrbildern, die sich etwa so zusammenfassen lassen: "Statt den disziplinierten Hedonismus der Mittelschichten nachzuleben, sitzen sie, mit Staatsknete alimentiert, den lieben langen Tag im Jogginganzug auf der Couch und verfetten beim Unterschichtfernsehen, während ihre Bälger mit Ballerspielen den Amoklauf trainieren, bei dem sie unsere fleißigen und wohlerzogenen Kinder totschießen." Die Mehrzahl freilich lebt nicht nach diesen radikalen Klischees, sondern in einer Gewöhnlichkeit, die selten beschrieben wird, weil sie so unaufregend scheint, sich nur schwer skandalisieren lässt. Es geht um die Kinder der "normalen" Familien - er Lokführer, sie Kassiererin.

In deren Namen spricht und schreibt Preisendörfer. Der Berliner Schriftsteller weiß, wovon er redet. 1957 als katholisches Arbeiterkind auf dem Land geboren, hat er den Weg aus der Bildungsferne selbst zurückgelegt. So verschweigt er - gegen die Tradition der Sonntagsreden - eine entscheidende Seite der Bildung nicht: ihre entwurzelnde. Ein Kind aus nicht-akademischem Haushalt opfert, wenn es sich anschickt, die Gipfel der Bildung zu erklimmen, seiner Zukunft die Herkunft, entfremdet sich mit jedem Schritt von der Familie, von seinem Milieu. Ein Akademikerkind hingegen verbleibt im vertrauten Umfeld. Vieles von dem, was wir Begabung nennen, erweist sich bei näherem Hinsehen als Effekt dieses Vertrautheitsvorschusses.

Der Krabbeneimer-Effekt

Geschickt spiegelt Preisendörfer seinen eigenen Bildungsgang in der langen Diskussion um das deutsche Schulsystem. So scharf er die Benachteiligung der Unterschichtkinder anprangert, so treu bleibt er der gut bürgerlichen Idee von Bildung. Sie ist in den vergangenen Jahren kaum inniger verherrlicht worden als hier: mit ihrem Versprechen von Aufstieg, Freiheit, Selbstbestimmung. Vermieden wird der proletkultartige Kurzschluss, man müsse den Kanon des Wahren, Guten und Schönen als Herrschaftsinstrument entlarven und zertrümmern. Aber es ist Verrat an der Idee der Bildung, wenn die Schulen Diskriminierung nicht nur nicht mildern, sondern verschärfen und überhaupt erst hervorbringen. Verantwortlich dafür ist zum einen das schlichte, materielle Interesse der Funktionseliten, ihre Kinder vor Konkurrenz zu schützen. Nur wenn es opportun ist, der Markt es zu fordern scheint, sprechen sie von der "Erschließung der Begabungsreserven".

Preisendörfer nennt diese Redensarten mit Recht "klassistisch" - in Analogie zu "sexistisch". Wer sagte, man müsse die "Selbständigkeitsreserven" junger Frauen erschließen, würde schließlich als dumm oder bösartig gelten. Ebenso scharf werden hier zum anderen die "Selbstblockaden" der unteren Schichten attackiert: der "Krabbeneimereffekt": "Jede Krabbe, die an der Innenwand des Eimers nach oben klettert, und das passiert dauernd, wird von den anderen sofort wieder zurückgeholt". Man braucht bereits Bildung, um die Bildungsblockade zu überwinden.

Es nimmt für diese Streitschrift ein, dass sie das moralische Dilemma der Mittelschichtseltern als ein substantielles anerkennt. Selbstverständlich suchen diese die besten Schulen für ihre Kinder, damit diese nicht auf dem eigenen Rücken die Schwächen des Systems austragen müssen. Dabei entdecken sie gar nicht so selten ihre Liebe zur Egalität. Sehr gefragt sind (private) Anstalten wahrhafter Gleichheit, auf denen alle Kinder aus einem Milieu stammen.

Ein Skandal ist, dass der Staat die Privilegien schützt und verstärkt: Etwa durch das Elterngeld, das abhängig vom Nettoeinkommen gezahlt wird. Etwa durch die Verteidigung des gegliederten Schulsystems. Preisendörfer erspart dem Leser zum Glück einen Maßnahmenkatalog. Er hofft auf eine Bildungsbewegung nach dem Vorbild der Frauenbewegung, jenem Musterfall der Selbstbefreiung. Manche halten ein paar Euro mehr auf dem Konto alter Arbeitsloser schon für einen Linksruck. Wer dieses wichtige Buch liest, wird sich wehmütig daran erinnern, dass - was hier gefordert wird - einmal sozialdemokratisches Programm war, damals, als die SPD noch die stärkste Partei Europas war.

Autor: JENS BISKY