7.3.06

Vogelfrei

“Die Zwei-Klassen-Gerechtigkeit sitzt in den Köpfen jener JuristInnen so tief, dass sie sich gar keine Vorstellung mehr davon machen können, wie schief die Dame Justitia ihre Acht-Groschen-Waage hält“, schreib Kurt Tucholsky 1921. Vor diesem Hintergrund eine Geschichte aus dem Bayern des Jahres 2003:
Jahrelang hat sich ein 64-jähriger Pädophiler im nicht so noblen Münchner Stadtteil Hasenbergl an Kindern zwischen sechs und 13 Jahren vergangen. Zuerst hatte er sich das Vertrauen sozial schlechter gestellter, allein erziehender Mütter erschlichen. Er sprach diese an, half ihnen in finanziellen Notlagen und bot sich schließlich an, hin und wieder auf deren Kinder aufzupassen. Im Jahr 2002 flog der Kindesmissbrauch schließlich auf. Der Mann wurde von der Polizei festgenommen, das Amtsgericht verurteilte ihn zu zwei Jahren Haft. Der Mann legte Berufung ein, der Fall kam an das Oberlandesgericht. Eine schreckliche Geschichte, die sich tagtäglich in den Gerichten auf der ganzen Welt abspielt.
Doch mit der zweiten Strafkammer am Oberlandesgericht kommt die unfassbare Wendung. Diese kam nämlich zu dem Schluss, dass der Mann zu entlassen sei. Die Begründung? Der Umstand, dass die Kinder von ihrer sozial schwachen Umgebung bereits geschädigt seien. Der Pädophile habe außerdem, so die Richter, gar nicht gegen den Willen der Kinder gehandelt: „Vielmehr waren die Kinder aufgrund bestehender Verwahrlosungstendenzen infolge fehlender erzieherischer
Wirkung ihrer Eltern erkennbar selbst an den vorgenommenen sexuellen Handlungen interessiert. Dies hat der Angeklagte lediglich ausgenutzt, ohne hierbei irgendwelchen körperlichen oder psychischen Druck auszuüben.“ Hinzu komme, „dass die missbrauchten Kinder durch die angeklagten Vorfälle über ihre bereits ohnehin vorhandene Milieuschädigung hinaus keine erkennbare weitere psychische Schädigung erlitten haben.“ Viel scheint sich in den Köpfen mancher Richter während der letzten 83 Jahre nicht geändert zu haben.
(ie)
abgedruckt in:Unique, 1/2003, S.19.